Eine Betrachtung aus aquaristischer Sicht
So alt wie die Aquaristik ist wohl auch die Frage nach der natürlichen Nahrung unserer Pfleglinge. Sie gipfelt in der oft wiederholten Feststellung, dass man sich angesichts des scheinbar ständigen Nahrungsmangels in vielen tropischen Gewässern fragt, wovon die zahlreichen Arten überhaupt leben. Geht man nun davon aus, dass diese Erscheinung im tropischen Regenwald Südamerikas extrem ausgeprägt ist, steht man unweigerlich vor einem Rätsel. Da wurden zwar gelegentliche Vorkommen von Tubifiziden oder Süßwassergarnelen gemeldet, auch sollen Mücken und deren Larven zeitweise in großen Mengen für die Ernährung in Frage kommen. Einhellig wird aber bestätigt, dass sie für die ganzjährige Ernährung der Arten wenig Bedeutung haben!
Etwas Licht in das Dunkel brachte das Bekannt werden einer floristisch-faunistischen Untersuchung und Abhandlung der Dinge in zentralamazonischen Gewässern (Fittkau und Mitarbeiter). Die Wissenschaftler beschreiben die Ergebnisse wie folgt: Am Untersuchungsort wie auch in anderen weiten Gebieten steht der Artenreichtum der Wirbeltiere (Fische, Amphibien, Reptilien) in besonders krassem Gegensatz zur Arten und Individuenarmut der Wirbellosen. Ähnliches gilt auch für das Fehlen der ständig untergetauchten Vegetation! Von beiden, den Wirbellosen und den Wasserpflanzen (samt ihren faulenden Überresten), lebt aber ein großer Teil der Fische unserer Breiten! So kommen auf vergleichbare Gewässer in Mitteleuropa keine oder nur wenige Arten, am Untersuchungsort aber wenigstens 50, vielleicht auch 80 Arten.
Also hieß es, weiter suchen! Bald fand man heraus, dass es außerdem an den Grundlagen für populationsstarke typische Fischnährtiere fehlt.
Die für dieses Phänomen charakteristische Abhängigkeitsfolge baut sich dabei etwa so auf: Infolge der außerordentlichen Armut des Bodens, der als Nährstofflieferant nahezu keine Rolle spielt, ist auch der Regenwald ständig auf die Nährstoffzufuhr aus der Atmosphäre (Staub/Regen) angewiesen. Die großen Niederschlagsmengen waschen den Boden aber immer wieder aus und verdünnen den ohnehin geringen Mineralsalz bzw. Nährstoffgehalt auch in den Gewässern auf ein Minimum. Weiterhin unterbinden starke Anteile von Huminsäuren, aber auch die starke Abschirmung des Sonnenlichtes (in ursprünglich erhaltenen Gebieten) das Zustandekommen einer für den Aufbau tierischer Nahrungsketten notwendigen Primärproduktion. Populationsstarke Nährtiere, wie Kleinkrebse oder Rädertiere, können sich somit nicht nennenswert entwickeln.
So bauen sich die Nahrungsketten auf pflanzlichem und tierischem Material auf, das von außerhalb der Gewässer stammt und von den Fischen direkt genutzt wird. Dabei wirkt die Vielzahl der Fischarten und ihrer Individuen im Ökosystem der Gewässer wie ein "Filter", der sowohl die Anflugnahrung (Insekten, Früchte, Samen, frisches Grün usw.) als auch die vom Benthos (= Gewässerboden) produzierte Nahrung (Algen, Detritus usw.) auffängt und einem eng geschlossenen Kreislauf zuführt.
Die anfallende Nahrung wird dabei vollständig verwertet, so dass keine Reserven übrig bleiben, die z. B. einer Unterwasserflora zugute kämen. Daraus erklärt sich wohl auch das auffällige Fehlen echter Wasserpflanzen in den Bächen und Flussläufen des Regenwaldes. Der vollständigen Nutzung des Nahrungsangebotes sowie dem langfristigen Bestehen gleichförmiger Lebensbedingungen wird zudem eine große Bedeutung für die Artdifferenzierung beigemessen. Unter Ausnutzung ökologischer Nischen, auch der im Wechsel von Hoch und Niedrigwasser auftretenden Raum bzw. Flächenveränderung, leben in derartig komplizierten Ökosystemen große Fische von kleineren Fischen, diese von anderer Fische Laich oder deren Nachkommen und wieder andere von den anfallenden Leichen. Das von den Wissenschaftlern untersuchte komplexe biozönotische Gefüge eines zentralamazonischen Baches wird daher auf ihre Weise vereinfacht wie folgt charakterisiert: je mehr Fischräuber, desto mehr Fischarten, je mehr Fischarten, desto mehr Fischnahrung. Nach Ansicht der Wissenschaftler gelten die im Bereich der Gewässer erworbenen Erkenntnisse auch für die Nutzung des Bodens. Somit funktioniert die artenreiche tropische Flora hier ebenfalls dadurch, dass eine optimale Ausnutzung der verfügbaren Nährstoffe erfolgt. Es wird damit erklärt, dass der Artenreichtum feuchttropischer Lebensräume nicht, wie oft vermutet, Ausdruck eines großen Nährstoffangebots, sondern eher eine Anpassung an kontinuierlichen Nährstoffmangel ist.
Lothar Zenner